«Gemeinsam können wir die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen weiter verbessern»
An der NCD-Stakeholderkonferenz vom 27. Mai 2021 hat sich BAG-Direktorin Anne Lévy zur aktuellen Krisenbewältigung und zur Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen geäussert. Sie hat ausgeführt, wie und wo sich das BAG für die Gesundheit der jüngsten Generation einsetzt.
Anne, du hast das Amt als Direktorin mitten in der Pandemie übernommen. Wie war der Start letzten Herbst für dich?
Natürlich habe ich mir meinen Start anders vorgestellt. Die letzten Monate waren sehr intensiv – aber auch sehr interessant. Seit dem ersten Tag ist die Pandemie das wichtigste Thema, da blieb keine grosse Einarbeitungszeit. Andere Themen sind zwar auch von zentraler Bedeutung, müssen nun aber zum Teil warten.
Dank dem gut eingespielten Team, auf welches ich bei meinem Start traf und das hervorragende Arbeit leistet, gestaltete sich mein Start den Umständen entsprechend allerdings sehr angenehm.
Welche Themen beschäftigt das BAG aktuell im Rahmen der Krisenbewältigung am meisten?
Wir beschäftigen uns momentan mit der Impfkampagne wie auch dem Covid-Zertifikat: Unser Ziel ist es, dass alle Impfwilligen bis im Juni zumindest einmal geimpft sind – sofern keine Lieferschwierigkeiten auftauchen und die Kantone die Kapazitäten für die Verimpfung aufbringen können. Wir erhalten laufend neue Dosen.
Weiter ist die Impfung für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren ein aktuelles Thema für uns. Moderna und Pfizer/Biontech führen aktuell klinische Studien zur Wirksamkeit der Impfung für unter 12-Jährige durch. Für die Altersgruppe von 12 bis 15 Jahren hat Pfizer/Biontech bereits einen Zulassungsantrag bei Swissmedic eingereicht. Dieser wird aktuell geprüft und wir werden bei positivem Entscheid zusammen mit der Eidgenössische Kommission für Impffragen (EKIF) eine Anpassung der Impfempfehlung anschauen.
Kommen Themen wie die Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen angesichts der hohen Arbeitsbelastung aufgrund der Pandemie nicht zu kurz?
Wie gesagt nimmt die Pandemiebewältigung sehr viel Zeit in Anspruch. Trotzdem sind wir in unseren anderen Arbeitsbereichen nicht untätig geblieben. Die Gesundheitsförderung und die Prävention von nicht übertragbaren Krankheiten in allen Bevölkerungsgruppen ist auch während und gerade durch die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie ein grosses Thema im BAG und eine meiner persönlichen Prioritäten. Zudem ist für mich auch die Förderung der psychischen Gesundheit ein wichtiges Anliegen.
Im letzten Jahr hat sich deutlich gezeigt, dass nicht nur das Virus an sich, sondern auch die Krisensituation Auswirkungen auf unser Gesundheit haben. Das BAG beobachtet die gesellschaftlichen Auswirkungen der Pandemie anhand verschiedener Studien intensiv. Beispielsweise zeigt der Covid-19 Social Monitor der ZHAW, dass die psychische Belastung im ersten Pandemiejahr stark angestiegen ist. Ende 2020 gaben bei den 18- bis 29-Jährigen etwa 45 Prozent eine erhöhte psychische Belastung an, im letzten Monat waren es noch immer 37 Prozent. Das ist deutlich mehr als in allen anderen untersuchten Altersgruppen.
Zudem unterstützen wir niederschwellige Beratungsangebote wie zum Beispiel 147 von Pro Juventute, ciao.ch, dureschnufe.ch und weitere mit zusätzlichen Geldern.
Du hast es gesagt, das aktuelle Wohlbefinden der Heranwachsenden ist stark von den notwendigen Massnahmen der Covid-Pandemie geprägt. Wenn wir nun aber auf die Jahre vor der Pandemie zurückschauen: Wie ging es den Kindern und Jugendlichen?
Für die Zeit vor der Pandemie haben wir mit dem nationalen Gesundheitsbericht, den das OBSAN im Jahr 2020 publiziert hat, eine sehr solide Grundlage. Er zeigt uns entlang verschiedener Dimensionen, wie es den Kindern und Jugendlichen geht:
Es ist erfreulich, dass die überwiegende Mehrheit der Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Schweiz ihren Gesundheitszustand wie auch ihr Wohlbefinden und ihre Lebensqualität positiv beurteilt. Die Einschätzung des persönlichen Wohlbefindens hängt allerdings stark mit dem jeweiligen Alter, Geschlecht und dem sozialen Status der Eltern ab.
Der OBSAN-Bericht zeigt jedoch auch auf, wo noch Handlungsbedarf – gerade auch im Bereich der Prävention – besteht: Gerade psychosomatische Beschwerden wie Nervosität oder Einschlafschwierigkeiten, Mobbing, Übergewicht bleiben aktuelle Themen, die wir angehen müssen.
Wo setzt das BAG bei der Gesundheitsförderung für Kinder und Jugendliche konkret an?
Ich möchte drei konkrete Handlungsfelder hervorheben:
1) Frühe Kindheit (0-4 Jahre): Wir haben gemeinsam mit Partnern ein Umsetzungskonzept für die frühe Kindheit erstellt. Weiter haben wir Daten gewonnen, z.B. zu Gewalterlebnissen oder Armut und problematischem Alkoholkonsum von Eltern. Wir stärken beispielsweise auch die familienzentrierte Vernetzung von Schwangerschaft bis Schuleintritt (in Anlehnung an Frühe Hilfen D und A) und die Prävention von Adipositas. Ausserdem unterstützen wir die Alliance Enfance, eine breite Allianz, die Öffentlichkeit, Fachpersonen und Politik für die Gesundheit, Integration und Chancengerechtigkeit in der Frühen Kindheit sensibilisieren möchte.
2) Früherkennung und Frühintervention ist gerade bei den Jugendlichen sehr wichtig. Beispielsweise engagieren wir uns im Bereich des Mischkonsums von Alkohol, Medikamenten und illegalen Drogen. Wir wollen die Motivation der Jugendlichen für diese risikoreiche Konsumform besser kennen um ihnen im Sinne der Verhältnisprävention passende Unterstützungsangebote machen zu können und die involvierten Fachleute vernetzen. Im Rahmen der Suchprävention setzen wir uns ausserdem für das Tabakwerbeverbot ein. Weiter gibt es im Rahmen von «Take care» neue Informationsmaterialien für die ärztliche Praxis, die das Bewusstsein für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen schärfen sollen.
3) Gesundheitsförderung in der Schule: Zentral ist für uns hier die Zusammenarbeit mit «bildung + gesundheit» Netzwerk Schweiz. Wir setzen uns dafür ein, dass sich die Schulen nachhaltig und gesundheitsfördernd ausrichten. Konkrete Projekte werden im Bereich Stressprävention für Lehrpersonen, naturnahe Pausenplätze oder auch psychische Gesundheit durchgeführt. Das «Schulnetz21» zählt mittlerweile rund 1900 Schulen in allen vier Sprachregionen. Als Beispiel möchte ich die Schule in Gettnau (LU) nennen: Dort wird ein naturnahes Outdoor-Schulzimmer eingerichtet, Partizipation wird an der Delegiertenversammlung gelebt und im Förderhaus werden auf verschiedenen Ebenen die Ressourcen gestärkt.
Warum lohnt sich die Investition in die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen?
Ein gesunder Start ins Leben ist eine entscheidende Voraussetzung für ein gesundes Erwachsenenleben. Wer sich als Kind schon viel bewegt, behält dieses Verhalten häufig bis ins hohe Alter bei. Deshalb ist es wichtig, dass schon früh in die Gesundheitsförderung investiert wird. Bund und Kantone können Massnahmen entwickeln für eine Nutzung bisher nicht ausgeschöpfter Potenziale in der Schwangerschaft, der Frühkindphase, im Kindergarten, in der Schule und im Übergang zum Beruf. Und zwar besonders für benachteiligte sozioökonomischen Gruppe. Psychischen Krankheiten soll ein besonderer Fokus zukommen.
Entscheidend ist auch, dass die Rahmenbedingungen ein gesundes Aufwachsen ermöglichen. Beispielsweise braucht es ein bewegungsfreundliches Umfeld, damit die gesunde Wahl leichter fällt. Damit Jugendliche mit dem Velo zur Schule fahren können, braucht es sichere und attraktive Velowege. Um das zu erreichen, ist eine gute Zusammenarbeit zwischen den Bereichen Gesundheit, Raum- und Verkehrsplanung sowie Umwelt nötig. Das sind auch die Ziele, die die interdisziplinäre Plattform One Health verfolgt.
Abschliessend noch eine persönliche Frage: Woher kommt dein grosses Interesse für Gesundheitsthemen?
Die aktuelle Situation macht auf verschiedenen Ebenen deutlich, wie stark alle Bereiche unseres Lebens von einer guten Gesundheit beeinflusst sind. Die Pandemie zeigt uns auf, was im Bereich der öffentlichen Gesundheit alles möglich ist, wenn alle Akteure aus dem Gesundheitswesen Hand in Hand arbeiten und ihre Fachkompetenzen einbringen. Die interdisziplinäre Bearbeitung von Gesundheitsthemen im Sinne des One Health-Ansatzes ist für mich persönlich zentral und ich hoffe, dass wir diese Art der Zusammenarbeit auch nach der Pandemie weiterführen können.
Gesundheit bedeutet für mich nicht nur die Abwesenheit von Krankheit. Prävention ist in diesem Sinne gerade für Kinder und Jugendliche für ein gesundes Leben bis ins Alter fundamental. Schliesslich ist Gesundheit – und das macht uns die gegenwärtige Pandemie nochmal bewusst – keine Selbstverständlichkeit. Entsprechend ist es wichtig, dass wir gerade im Bereich der Gesundheitsförderung und Prävention gemeinsam mit allen Akteuren, aber auch aus den Bereichen Gesellschaft und Wirtschaft, weiterhin eng zusammenarbeiten und gemeinsam valide Lösungsansätze für die Bewältigung der gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen entwickeln und umsetzen. Dabei sollten wir die jungen Menschen nicht vergessen, die nicht mit den gleichen Chancen ins Leben starten und deren Gesundheitskompetenz noch nicht ausgereift ist.
In diesem Sinne ist es mir ein grosses Anliegen, den Teilnehmenden dieser Konferenz herzlich für Ihr Engagement zu danken. Gemeinsam können wir die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen weiter verbessern. Auch wenn die Tagung online stattfinden muss, möchte ich Sie dazu anregen, sich auch unter einander auszutauschen und zu vernetzen. Wenn wir in Zukunft valide Lösungsansätze in der Prävention finden wollen, dann ist eine interprofessionelle Herangehensweise unabdingbar.